Wilding Shoes. Punkt. Mehr braucht dieses Intro eigentlich nicht. Denn Eltern haben sofort die ikonische Form der Kinderschuhe vor Augen. Sie sehen anders aus als übliche Kinderschuhe, sie fühlen sich auch anders an und jeder, der mal Kinderschuhe gekauft hat, kennt sie. Anna und Ran Yona sind die erfolgreichen GründerInnen und BarfußvorläuferInnen, die auch in Sachen MitarbeiterInnenführung und Arbeitsmodelle neue Pfade eintreten. Beim Rock’n’Raise Festival wird Euch Anna Yona erzählen, wie Arbeiten bei Wildling Shoes (mit 150 MitarbeiterInnen, mostly im Home Office!) so läuft. Schon jetzt, haben wir ihr Fragen gestellt, mit denen wir nicht warten konnten:

Foto: Wildling Shoes

Du hast 12 Jahre in Israel gelebt, deine Kinder sind dort geboren. Wie unterscheidet sich der Alltag als berufstätige Mutter in Israel von dem in Deutschland? Was können/sollten wir vom Blick über den Tellerrand lernen?

Der Alltag in Israel ist in vieler Hinsicht härter als in Deutschland. Ich war in Israel in einer Beschäftigung, die hier zum Schutz der Arbeitnehmenden als Scheinselbständigkeit verboten worden wäre. Ich hatte keinen bezahlten Mutterschutz, keinen bezahlten Urlaub, keinen Kündigungsschutz und schon gar keine Elternzeit. Was bedeutet hat, dass ich – auch aus finanziellen Gründen – zwei Tage nach der Geburt wieder am Laptop sitzen musste. Auch wenn es sehr viel zu verbessern gibt in Deutschland und ich es total unterstütze für echte Vereinbarkeit und Chancengleichheit zu kämpfen, geht es uns im Vergleich mit vielen anderen Lebensrealitäten auf der Welt extrem gut. Ich finde es wichtig, dass man sich das trotz allem immer wieder klar macht. Eine grundsätzliche Dankbarkeit und Wertschätzung unserer Privilegien schließt ja ein Engagement und einen Einsatz für positive Veränderung nicht aus. 

Nach der Rückkehr nach Deutschland bist Du als Gründerin in den Schuh-Kosmos eingestiegen. Wie war das für Dich? Wie glatt lief das?

Unsere Gründung war zum großen Teil Leidenschaft. Wir wollten Schuhe entwickeln, die eine natürliche Bewegung und eine gesunde Fußentwicklung (oder Regeneration) möglich machen und wollten damit ein gesellschaftliches Problem lösen. Eine nicht zu vernachlässigende Schwierigkeit war, dass wir beide überhaupt keine Ahnung von Schuhfertigung hatten. Und auch nicht wirklich von Unternehmensführung. Aber wenn man mit viel Herzblut an eine Sache herangeht, lässt man sich nicht so schnell von Widrigkeiten aufhalten. Naivität hilft auch dabei, die Dinge unvoreingenommen und positiv anzugehen. So hat uns unser Unwissen in vieler Hinsicht dabei geholfen, Wege einzuschlagen, die wir mit mehr Erfahrung wahrscheinlich gemieden hätten. Diese Wege haben uns aber oft zu wirklich anderen Ergebnissen und neuen Erkenntnissen geführt.

Wie einfach oder schwierig war es ein so innovatives Produkt voranzubringen? Auf welche etablierten Prozesse konntet ihr zurückgreifen? Wo musstet ihr selbst Lösungen erfinden und wie seid ihr dabei vorgegangen?

Einen Schuh zu entwickeln, wenn man wirklich keine Ahnung von Produktdesign oder Schuhfertigung hat, ist keine leichte Aufgabe. Dabei fällt einem schnell auf, dass ein Schuh ein sehr komplexes Produkt ist, bei dem Design und Funktion extrem eng miteinander verwoben sind. Vielleicht war es hilfreich, dass wir das etablierte Produkt nochmal komplett neu denken wollten. Wir sind vom Endergebnis ausgegangen und haben uns vorgestellt, wie der Schuh sich hinterher anfühlen soll, wie er funktionieren soll. Das hat uns geholfen, viele Entscheidungen für oder gegen Materialien, Fertigungsarten und Designoptionen zu treffen. Natürlich ging das nicht ohne Unterstützung, daher haben wir uns entsprechende Fachleute gesucht, die uns bei der Erstellung des ersten Designs, beim Leistenbau oder bei der Fertigung der Prototypen helfen konnten.

Fotos. Wildling Shoes

Ihr habt die Kosten für die Entwicklung von Wildling Shoes mit einem KfW Kredit und Crowdfunding reingeholt. Erzähl uns bitte mehr, wieso ihr diese Finanzierungskombination gewählt habt?

Wir haben einen KfW-Gründerkredit aufgenommen, um die Kosten bis zur Markteinführung zu decken. Im Anschluss hat eine Crowdfunding-Kampagne die erste Produktion finanziert. Beide Finanzierungsarten haben uns geholfen, komplett unabhängig zu bleiben von Investoren. Das ist bis heute extrem wichtig für Wildling. Dadurch, dass wir von Anfang an selbstfinanziert sind, haben wir unsere komplette Entscheidungsfreiheit behalten. Teamaufbau mit Menschen im Fokus, Investitionen in Nachhaltigkeit, Partnerschaften, die auf Langfristigkeit und nicht auf Kosteneffizienz ausgelegt sind – das sind Freiheiten, die ich mir nicht nehmen lassen möchte. 

Das Crowdfunding hat zusätzlich den Grundstein für eine sehr enge Kund*innenbindung gelegt. Im Austausch mit unseren Unterstützer*innen haben wir noch vor Markteintritt sehr wichtigen Input erhalten. Wir haben damals z.B. auf Kundenwunsch die Entscheidung getroffen, nicht nur Kinderschuhe, sondern Schuhe für die ganze Familie zu machen – was wirtschaftlich einen großen Einfluss auf die Entwicklung des Unternehmens gehabt hat. 

Foto: Wildling Shoes

"Unternehmenskultur ist nichts, was statisch einfach gut ist - wie in einer Familie bedarf das auch ständiger Auseinandersetzung und Beziehungsarbeit, damit das, was gut ist auch gut bleibt."

Inzwischen beschäftigt ihr 150 MitarbeiterInnen, viele davon im Home Office. Welche Vorteile seht ihr in dieser Arbeitsweise, für Euch und für die MitarbeiterInnen?

Unsere Entscheidung als Team “remote” zu arbeiten ist schon sehr früh und sehr intuitiv gefallen. Als Mutter von drei (damals noch kleinen) Kindern, war es mir wichtig meine Arbeits- und Familienzeit flexibel einteilen zu können. Das ging deutlich einfacher aus dem HomeOffice. Da es kein “Wildling Büro” gab, wurden alle zukünftigen Teammitglieder ebenfalls von zu Hause eingestellt. Natürlich mussten wir die richtigen Prozesse für eine gute Zusammenarbeit auf Distanz erst einmal definieren, aber mit den entsprechenden Strukturen bietet ein Remote-Team sehr viele Vorteile gegenüber einem klassischen Arbeitsumfeld. Die unabdingbare Grundlage für die Zusammenarbeit auf Distanz ist Vertrauen. Vertrauen in die Fähigkeiten der anderen, in deren Motivation und in das gemeinsame Ergebnis. Das macht Autonomie und Selbstbestimmtheit möglich. Unser Team arbeitet auch zum großen Teil orts- und zeitunabhängig, was ganz andere Voraussetzungen für Vereinbarkeit schafft.

Wie stellst Du Dir die ideale Arbeitswelt vor? Und was davon ist jetzt schon bei Wildling Gegenwart?

In einer idealen Arbeitswelt geht es um sinnvolle Aufgaben, intrinsische Motivation und Selbstwirksamkeit. Außerdem kann ich mir aussuchen, wann ich woran arbeite und von wo aus ich das tue, ob ich heute gern allein und konzentriert von zu Hause oder in einem Coworkingbereich mit Kolleg*innen arbeiten möchte. Arbeit bestimmt nicht mehr das ganze Leben, sondern füllt einen bestimmten Teil davon aus – wieviel sollte jede*r selbst entscheiden können. Im Rahmen von Corporate Volunteering oder einem zur Verfügung gestellten, bezahlten Arbeitszeitkontingent kann man sich um soziale Aufgaben oder sinnvolle (eigene) Projekte kümmern, und so zur Lösung gesellschaftlicher Probleme beitragen. 

Bei Wildling schaffen wir es glaube ich schon recht gut, Freiräume und Flexibilität in den Arbeitsalltag zu bringen. Ziele mit individuellen Schwerpunkten und einem klaren Mehrwert, persönliche Weiterentwicklung und Selbstbestimmtheit schaffen eine gute Grundlage für intrinsische Motivation und Sinnhaftigkeit im täglichen Tun. Wir besetzen viele Stellen auch in Teilzeit, so dass unterschiedliche Lebensmodelle Platz finden, und dem Team stehen zumindest in Köln, Berlin und Oberberg Coworking-Bereiche zur Verfügung. An einem Konzept für Corporate Volunteering oder bezahlter Arbeitszeit für persönliche Projekte arbeiten wir noch, aber das wird kommen. Wir sind also schon auf einem ganz guten Weg und trotzdem ist noch wahnsinnig viel zu tun. Unternehmenskultur ist nichts, was statisch einfach gut ist – wie in einer Familie bedarf das auch ständiger Auseinandersetzung und Beziehungsarbeit, damit das, was gut ist auch gut bleibt. 

Wie fühlt sich das an, eine Idee zu haben und zu sehen, was daraus wird?

Eine Idee umsetzen zu dürfen und dann zu sehen, wie aus der Idee eine echte Unternehmung wird, an der viele tolle Menschen teilhaben und mitwirken, das ist ein sehr besonderes Erlebnis, für das ich unendlich dankbar bin. 

Für mich ist Wildling längst mehr als eine Schuhmarke – es ist eine Plattform geworden, mit deren Hilfe wir Dinge bewegen können, die uns sehr am Herzen liegen. Natürlich machen wir in erster Linie Schuhe und da gibt es auch noch wahnsinnig viel zu lernen und optimieren, aber wir können uns mittlerweile auch größeren Themen wie Nachhaltigkeit, Fairness und Innovation widmen. Es gibt so viel zu tun und es tut einfach gut, die Dinge Schritt für Schritt anpacken und langfristig ändern zu können. 

Foto: Wildling Shoes

Wildling Shoes sind sehr anders, als bisherige Kinderschuhe auf dem Markt (besser natürlich! ;-)). Welche Deiner Skills, Branchen-Aspekte oder Ereignisse im Schaffungsprozess machst für dieses hohes Maß an Innovation verantwortlich?

Ich glaube es lag zum großen Teil an unserer gesunden Unwissenheit, dass ein wirklich andersartiges Produkt entstanden ist. Weil wir nicht wussten, wie man es eigentlich macht, ist zum Schluss etwas Neues entstanden. Der Rest ist eine gewisse Sturheit und Kompromisslosigkeit und auch der Optimismus und Glaube daran, dass es klappen wird. Das hat uns geholfen, nicht den Mut zu verlieren und aufzugeben, wenn wir zum x-ten Mal gehört haben, dass das so nicht klappt, ein Prototyp mal wieder unmöglich aussah oder Experten uns abgeraten haben, einen bestimmten Weg einzuschlagen. Vor allem Ran hat an unserer Idee festgehalten und sie gegen alle Zweifler und Besserwisser verteidigt. Ohne ihn hätte ich früher aufgegeben, aber er hat sich da nicht beirren lassen. 

Du möchtest noch mehr über das Arbeiten bei Wildling Shoes, die Unternehmenskultur und Familienfreundlichkeit im Familienunternehmen erfahren?

Beim Rock’n’Raise Festival am 16.+17. September gibt Anna Yona noch mehr Einblicke ins Arbeiten in 100 % Home Office. 

Welchen Tipp gibst Du Müttern oder auch Paaren, mit einer Gründungs- oder Produktidee?

Eine gute Idee löst ein vorhandenes Problem. Dieses Alleinstellungsmerkmal sollte man sehr gut schärfen und genau auf die Zielgruppe abstimmen. Wenn alles passt, dann mit ganzem Mut ran. Eine Gründung braucht Zeit und vor allem Fokus – das lässt sich selten nebenbei vorantreiben.

Vielen Dank für das spannende Gespräch.

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